Unzählige Denkmale, Straßen und Schulen sind dem Freiherrn vom Stein gewidmet. Er gehört unzweifelhaft in eine Reihe mit den großen Persönlichkeiten aus Deutschland. Als 1958 für unsere Schule ein Namenspatron gesucht wurde und man auf den Freiherrn stieß, war man sich einig, dass die Benennung der neuen Schule nach dem preußischen Beamten „äußerst glücklich“ sei.
An der Wertschätzung des Freiherrn hat sich seitdem nichts geändert. Doch obwohl man den Namen des nassauischen Adeligen kennt, wissen nur wenige Menschen inhaltlich etwas mit ihm anzufangen. Worin also liegt die Bedeutung des berühmten Unbekannten? Die Antwort muss facettenreich ausfallen, weil der Freiherr auf mehreren und recht unterschiedlichen Gebieten tiefe Spuren hinterlassen hat.
Eine Beamtenkarriere und ihr jähes Ende
Heinrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein wurde am 26. Oktober 1757 zu Nassau an der Lahn als achtes Kind in ein Reichsrittergeschlecht geboren. Nach einer juristischen und staatswissenschaftlichen Ausbildung begann er 1780 eine Laufbahn als Beamter. Die Entscheidung für den preußischen Staatsdienst begründete er mit seiner Bewunderung für Friedrich den Großen und dessen liberalen Geist. Die ersten Jahre verbrachte er vornehmlich in Westfalen, wo er sich der Organisation des Bergbaus, der Binnenschifffahrt und des Straßenbaus widmete – in der Frühindustrialisierung waren das Zukunftsbranchen. Seine Arbeit war eine Erfolgsgeschichte: In fünf Jahren wuchs die jährliche Förderung der Zechen von 60.000 auf beinahe 190.000 Tonnen.
Sein organisatorisches Geschick, sein Fleiß und sein Engagement wurden 1804 mit der Berufung nach Berlin als königlicher Finanz- und Wirtschaftsminister belohnt. Skandale suchte man in Steins Privatleben zwar vergebens, aber sein Ethos und seine Geradlinigkeit verleiteten ihn zu einem oft schroffen und undiplomatischen Verhalten. Den preußischen Außenminister bezeichnete er gar als „Mann ohne Wahrhaftigkeit“ und als „abgestumpften Wollüstling“. Solche und ähnliche Entgleisungen führten 1807 schließlich zur unehrenhaften Entlassung aus dem preußischen Staatsdienst. Daraufhin zog sich Stein auf seine Besitzungen in Nassau zurück und verfasste, obwohl er gerade erst aus dem Staatsdienst entlassen worden war, als Privatmann ein Reformprogramm für Preußen, das als Nassauische Denkschrift in die Geschichte einging.
Die Nassauische Denkschrift
Die berühmte Denkschrift bleibt unverständlich, wenn nicht auch der europäische Kontext betrachtet wird. Denn zu dieser Zeit hatte Napoleon die Herrschaft über Frankreich erlangt und schickte sich nun an, Europa seiner Herrschaft zu unterwerfen. Am preußischen Hof waren ihm bislang Königin Luise und der Minister Stein entgegengetreten. Doch die Dinge entwickelten sich schlecht und Frankreich besiegte Preußen bei Jena und Auerstedt. Napoleon diktierte Preußen 1807 einen harten Friedensvertrag, in dem es mehr als die Hälfte seines Gebiets verlor. Außerdem durfte Frankreich dort nach Belieben Truppen stationieren, die Preußen zu bezahlen hatte. Die Folge war eine ausgewachsene Finanzkrise. Nun wurde offensichtlich, dass Preußen sich viel zu lange auf dem Ruhm Friedrichs des Großen ausgeruht hatte. Viele Strukturen waren veraltet und dringend reformbedürftig.
In der Nassauischen Denkschrift forderte Stein die vollständige Modernisierung der preußischen Verwaltung an Haupt und Gliedern und bezog Stellung gegen einen bürokratischen Dirigismus. Stattdessen plädierte er für dezentrale Lösungen, für die Selbstverwaltung der Städte, Landkreise und Provinzen, für Partizipationsmöglichkeiten und das Prinzip der Subsidiarität. Aus dem alten, absolutistischen Untertanenstaat sollte eine neue, liberalere und effizientere Administration hervorgehen. Dahinter stand ein Denken, das jeden Staatsbürger in der Pflicht sieht, sich für das Gemeinwesen zu engagieren, und das davon ausgeht, dass Freiheit und Besitz des Einzelnen auch dem Ganzen diene.
Die Erneuerung im Inneren, die Eindämmung absolutistischer Willkür und die Befreiung von äußerer Bedrückung gingen für Stein dabei Hand in Hand. Das übergeordnete Reformziel formulierte der Freiherr so: „die Belebung des Gemeingeistes und Bürgersinns, die Benutzung der schlafenden oder falsch geleiteten Kräfte und der zerstreut liegenden Kenntnisse, der Einklang zwischen dem Geist der Nation, ihren Ansichten und Bedürfnissen und denen der Staatsbehörden, die Wiederbelebung der Gefühle für Vaterland, Selbständigkeit und Nationalehre“. Es ging also um weit mehr als nur um die Einsparung von Verwaltungskosten. Zusammen mit der Rigaer Denkschrift Hardenbergs bildete Steins Memorandum den Ausgangspunkt für die Reformen, die heute nach ihren Initiatoren auch Stein-Hardenbergische Reformen genannt werden.
Superminister und Reformer
Die Chance zur Umsetzung seiner Ideen bekam Stein durch ein Missverständnis Napoleons, der den preußischen König zur Einsetzung seines ehemaligen und widerspenstigen Ministers zwang. Derselbe König, der Stein kurz zuvor unter Vorwürfen entlassen hatte, vertraute ihm nun die Leitung sämtlicher Zivilangelegenheiten an. Heute würde man einen solchen Minister wohl als „Superminister“ bezeichnen.
Stein nutzte die Vollmachten, um Preußen innerhalb weniger Monate in die Moderne zu stoßen: Mit der Bauernbefreiung wurden die Leibeigenschaft und die Erbuntertänigkeit abgeschafft, die freie Berufswahl wurde eingeführt und die neue Städteordnung sah deren Selbstverwaltung nach dem Subsidiaritätsprinzip vor. An die Stelle des Generaldirektoriums traten moderne Fachministerien für Inneres, Finanzen, Auswärtiges, Krieg und Justiz, und auf der darunter liegenden Verwaltungsebene lösten Regierungspräsidiendie alten Kriegs- und Domänenkammern ab. Neben die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Maßnahmen traten durch Scharnhorst und Gneisenau Militär- und durch Humboldt Bildungsreformen.
Der Gegenspieler Napoleons
Angesichts der massiven Gebietsverluste, der prekären Finanzlage und seines Reformprogramms versuchte Stein zunächst, Napoleons Forderungen zu erfüllen. Da dieser jedoch mit immer neuen Ansprüchen auftrat, wuchs der Entschluss zum Widerstand. Ermutigt durch die antifranzösischen Erhebungen im besetzten Spanien dachte Stein nun an einen Volksaufstand in Deutschland und an ein Bündnis zwischen den von Frankreich gedemütigten Großmächten Preußen und Österreich. Bis dahin wollte Stein das Land auf den Krieg vorbereiten. Und mit dieser Politik war er nicht allein; auch andere preußische Staatsmänner und Generäle dachten und planten so.
Diese Planungen blieben Napoleon allerdings nicht verborgen und so erklärte er den Freiherrn zum Feind Frankreichs. Stein hätte verhaften und erschossen werden können, doch der Freiherr flüchtete ins österreichische Böhmen. Dort beobachtete er mit Wohlwollen den antifranzösischen Aufstand der Tiroler und verfasste mehrere Verfassungsentwürfe für das von Napoleon 1806 zerschlagene, aber wiederherzustellende deutsche Reich. Napoleons Ächtungsdekret hatte sein Ziel nicht erreicht. Im Gegenteil: Stein wurde in den nächsten Jahren zum Symbol des antifranzösischen Widerstands und zum eigentlichen Gegenspieler Napoleons. Der Kampf gegen die französische Fremdherrschaft wurde sein bestimmendes Anliegen und nicht selten ärgerte er sich dabei über die deutschen Fürsten, denn – so schrieb er nach London – „überall sitzt Erbärmlichkeit auf den Thronen.“
Der Organisator des Befreiungskrieges
Napoleon bereitete sich zwischenzeitlich auf seinen Feldzug gegen Russland vor. Der russische Zar berief daraufhin 1812 Stein als persönlicher Berater nach Moskau, wo Stein zur Vorbereitung eines deutschen Volksaufstandes die Bildung eines „Deutsches Komitees“ vorschlug und den Aufbau eines Spionage- und Agentennetzes unterstützte. Der Reichsritter aus dem Lahntal hatte durch diesen Ruf an den Zarenhof endgültig die ganz große Bühne betreten. Ein enger Vertrauter wurde ihm dabei der Dichter Ernst Moritz Arndt, der ihm als Privatsekretär diente. Der Einmarsch der „Grande Armée“ Napoleons nach Russland endete jedoch in einem militärischen Desaster. Napoleon musste den Rückzug antreten, den nur ein Bruchteil seines Heeres überlebte. Stein überzeugte den Zar, den Krieg fortzusetzen, und wurde damit zum Strippenzieher im Befreiungskrieg. Gleichzeitig versuchte er den Zar für die Wiedererrichtung eines deutschen Reiches zu gewinnen, damit es Russland vor dem revolutionären Frankreich Schutz bieten könne.
Napoleons Rückzug war in Europa das Zeichen zum Aufstand. Nachdem einige preußische Generäle eigenmächtig auf die Seite der Alliierten übergegangen waren, ließ sich der zögerliche preußische König endlich zu einem Bündnis mit Russland bewegen. Stein präzisierte derweil seine Verfassungsentwürfe für das deutsche Reich, für das er einen Kaiser und einen Reichstag vorsah. Er selbst übernahm die Leitung einer Übergangsbehörde, die der Beschaffung von Geld, Waffen und Soldaten diente und zum Ausgangspunkt für die Errichtung des Reiches werden sollte. Dies trug ihm sogar den Spitznamen „Kaiser von Deutschland“ ein. In einem Brief von 1812 bekannte er offen: „Mir sind die Dynastien in diesem Augenblick der großen Entwicklungen vollkommen gleichgültig, mein Wunsch ist, daß Deutschland groß und stark werde, um seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit und Nationalität wieder zu erlangen und zu behaupten in seiner Lage zwischen Frankreich und Rußland“.
Stein und der Wiener Kongress
Wenn Stein mit seiner Politik Erfolg gehabt hätte, wäre das Ergebnis – 60 Jahre vor der tatsächlichen Reichsgründung – ein deutsches Reich gewesen, in dem Österreich und Preußen den Ton angegeben hätten. Doch es kam anders. Die europäischen Fürsten hatten kein Interesse daran, den Forderungen der Deutschen nach einem eigenen Staat mit einer freiheitlichen Verfassung entgegenzukommen. Nach der Völkerschlacht bei Leipzig und der endgültigen Niederlage Napoleons bei Waterloo verhandelten die Fürsten 1815 auf dem Wiener Kongress über eine neue Friedensordnung. Die nationalen und liberalen Forderungen spielten da für sie schon keine Rolle mehr. Der Freiherr konnte die Verhandlungen kaum beeinflussen und kehrte noch vor der Unterzeichnung des Friedensvertrages frustriert nach Hause zurück. Das Angebot zur Übernahme eines hohen Amtes durch Fürst Metternich lehnt er ab, weil er nicht im Dienst eines Mannes stehen wollte, von dem er nichts hielt.
Auf seinem Anwesen beobachtete Stein das Geschehen und mischte sich – wenngleich nun ohne Einfluss – in die große Politik ein. Sein Schloss wurde zu einem Anziehungspunkt für Adelige, Diplomaten und Intellektuelle aus ganz Europa – wie z. B. Goethe, die Brüder Schlegel oder Wilhelm von Humboldt, um ein paar bekanntere Namen zu nennen. Als 1825 in England die erste öffentliche Eisenbahnverbindung aus der Taufe gehoben wurde, regte er den Bau einer Eisenbahnverbindung von der Lippe an die Weser an. Seinen politischen Standpunkt beschrieb er als gemäßigt und gleichermaßen entfernt von restaurativen und revolutionären Forderungen. Den nationalen Freiheitsbewegungen in Polen oder Griechenland stand er positiv gegenüber, den Umstürzen in Belgien aber nicht. Die rückwärtsgerichtete Politik der deutschen Fürsten verurteilte er und empfand die Karlsbader Beschlüsse, mit denen die Fürsten jede Kritik zu ersticken versuchten, als Schande.
Der Historiker und Intellektuelle
Wäre der Freiherr vom Stein bald nach dem Wiener Kongress verstorben, wäre er mit seinem großen Reformwerk wohl als großer Modernisierer Preußens und als Vorkämpfer für die deutsche Einheit in die Geschichte eingegangen.
Aber es wartete noch ein weiterer Lebensabschnitt auf ihn, der ihm nachhaltige Bedeutung gab. Anlass war ein Geschichtsbuch, das er für seine Tochter schrieb und für das der Quellenzugang schwierig war. Stein begründete deshalb – unter Verwendung erheblicher privater Mittel – eine für die Geschichtswissenschaft höchst bedeutsame Sammlung mittelalterlichen Quellen zur deutschen Geschichte: die Monumenta Germaniae Historica (lateinisch: „Historische Denkmäler Deutschlands“). Diese Sammlung bildet bis heute eine maßgebende Ausgabe der Geschichtswissenschaft.
Geschichte war für ihn nicht nur eine zentrale Kategorie seines Denkens, sondern auch ein Leitbild für die nächsten Generationen. Mit seinem Geschichtswerk ging es dem Reichsritter zum einen darum, die Legitimität des Adels aus der Geschichte herzuleiten. Zum anderen sollte das nationale Bewusstsein zur Überwindung der deutschen Kleinstaaterei gefördert werden. Ständisches Selbstbewusstsein, die Hinwendung zur eigenen Geschichte, moderne Verwaltungsprinzipien, die Beteiligung der Staatsbürger und die nationale Einigung waren für den konservativen Reformer keine Widersprüche. Ganz im Gegenteil: Ihre Verbindung faszinierte ihn.
Stein als Identifikationsfigur
Es dauerte nicht lange, bis Stein zu einer nationalen Identifikationsfigur wurde. Für den linksliberalen Staatsrechtler Hugo Preuß, der maßgeblich an der Weimarer Verfassung mitgearbeitet hatte, war Stein „der größte innere Staatsmann Deutschlands“, weil er die Verfassung des Reiches von unten aus den Kommunen entwickeln wollte. Die Büste des Freiherrn war damals schon längst in die Reihe der großen Deutschen in der Walhalla bei Regensburg aufgenommen worden und viele Seiten versuchten – wie bei großen Persönlichkeiten üblich – sein vielseitiges Wirken für ihre Zwecke zu vereinnahmen.
Nichtsdestotrotz hat der Freiherr alle Umwälzungen der letzten 200 Jahre unbeschädigt überdauert und so kam das Wetzlarer Staatsarchiv 1957 in seinem Gutachten zur Benennung der neuen Schule zu folgendem Ergebnis: „[Es] gibt wohl kaum einen einzigen geschichtlich oder politisch interessierten Menschen, gleich welcher weltanschaulichen, politischen oder religiösen Überzeugung, der nicht in Stein gerade für unsere Schuljugend ein großes und gutes Vorbild anerkennt.“ Ein Biograph merkte später an, dass „Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert wohl nur wenige Politiker besessen [hat], die eine ähnliche Gedankentiefe, moralische Integrität und Prinzipientreue besaßen“.
Der Freiherr und Wetzlar
Ganz ähnlich wie Goethe, aber um ein paar Jahre versetzt kam Stein als Zwanzigjähriger nach Wetzlar, um nach dem Studium in Göttingen am höchsten deutschen Gericht, dem Reichskammergericht, für einige Monate ein Praktikum zu absolvieren. Während dieser Zeit wohnte der Freiherr in der Pariser Gasse bei einem bekannten Juristen, dem er am Gericht zugeordnet war.
In seiner Wetzlarer Zeit trat Stein der Freimaurerloge „Joseph zum Reichsadler“ bei, die 2017 unter dem Namen „Wilhelm zu den drei Helmen“ ihr 250-jähriges Bestehen feierte. Damit legte Stein ein Zeugnis aufgeklärten Denkens ab. Ob er ein wirklich aktives Mitglied der Loge wurde, darf aber bezweifelt werden. Fest steht aber, dass Stein durch seine akademischen Lehrer als junger Mann mit den Gedanken des Frühliberalismus vertraut gemacht wurde.
Aber ganz anders als Goethe, den eine unglückliche Liebesbeziehung mit Wetzlar verband und der später nie mehr in die Domstadt zurückkehrte, besuchte Stein die alte Reichsstadt an der Lahn immer wieder. Dabei spielte sein alter Wetzlarer Lehrmeister, der Prokurator Kaspar Friedrich von Hofmann, eine wichtige Rolle, dem er zeitlebens freundschaftlich verbunden blieb. Seine letzten Jahre verbrachten der Freiherr auf Schloss Cappenberg in Westfalen, wo er am 29. Juni 1831 starb.
Bildnachweis: Brustbild des Staatsministers Karl Freiherr vom und zum Stein von Johann Christoph Rincklake (1804). Dieses Werk ist gemeinfrei.